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Chancen und Perspektiven im Alter

Autonomie und Abhängigkeit im Alter

Menschen können heute bis ins hohe Alter relativ gesund und selbständig leben. Erst allmählich, manchmal aber auch abrupt, häufen sich Beschwerden und nimmt die Abhängigkeit von Unterstützung zu. Dabei soll die Autonomie der Betroffenen gewahrt bleiben. Das hohe Alter gibt auch Anlass, die positiven, menschlich bereichernden Aspekte des Verwiesen-Seins auf die Hilfe von anderen neu zu würdigen.

Autonomie zählt für die meisten Menschen hierzulande zu den erstrebenswertesten Gütern. Selbst über sein Leben bestimmen und auch im Alter selbständig sein Leben führen zu können ohne anderen zur Last zu fallen, das ist vielen ein zentrales Anliegen. Sogar das Sterben steht heute im Zeichen der Autonomie, wie die Forderung nach einem «selbstbestimmten Sterben» deutlich macht.

Doch was verstehen wir unter «Autonomie»? Drei Aspekte sind zu unterscheiden:
Autonomie als Selbständigkeit, Autonomie als Selbstbestimmung und Autonomie als Selbstverantwortung.

  • Selbständig sind wir meist nur mehr oder weniger. Es gehört zum Menschsein, dass wir von anderen Menschen abhängig sind: von ihrer Hilfe, von ihrer Arbeit, von ihrem Wissen, von ihrer Solidarität und Unterstützung. Zu unserem Leben gehört das gegenseitige Angewiesen-Sein aufeinander. In gewissen Lebensphasen, etwa in der Kindheit, bei Krankheit oder im hohen Alter wird die Abhängigkeit deutlicher spürbar als in anderen Phasen. Aber grundsätzlich existiert sie immer. Wir sind ein Leben lang von anderen abhängig – und andere von uns. Das ist normal; das ist zutiefst menschlich. In einer Gesellschaft wie der unsrigen, in der das Streben nach Autonomie als Unabhängigkeit von anderen sehr ausgeprägt ist, tun wir gut daran, uns das wieder in Erinnerung zu rufen. Es ist keineswegs entwürdigend, auf andere angewiesen zu sein. Wirklich frei ist nur, wer sich gerade im Alter solche Abhängigkeit eingestehen und sie als Teil des Lebens annehmen kann.


  • Selbstbestimmung gibt es nur auf dem Hintergrund eines Lebens in Selbständigkeit und Abhängigkeit. Hier ist der Anspruch auf Autonomie allerdings zentral. Es gehört zur Würde jedes Menschen, dass er letztlich selbst über sein Leben bestimmen soll und nicht andere über ihn verfügen dürfen. Darum darf keine medizinische Handlung an jemandem vollzogen werden ohne seine oder ihre Zustimmung. Alle sollen selber bestimmen können, was für sie gut ist und welche Art von Leben sie führen wollen. Das gilt auch bei Abhängigkeit von der Hilfe durch andere: Ich darf selber bestimmen, welche Hilfe ich annehme und welche ich ablehne. Natürlich gilt diese Selbstbestimmung immer nur im Rahmen der gegebenen Lebensumstände und soweit sie nicht die Selbstbestimmung anderer beschneidet.


Nun kann es sein, dass jemand im hohen Alter krankheitsbedingt nicht mehr imstande ist, selbständig zu entscheiden. Zum Beispiel bei einer fortgeschrittenen Demenz. Aber auch hier besteht der grundlegende Anspruch fort, dass eine Person nicht nach dem subjektiven Für-gut-Befinden irgendwelcher Angehöriger, Pflegender oder Mediziner behandelt wird, sondern nach ihrem eigenen «mutmasslichen Willen», das heisst so, wie die betreffende Person es mit grösster Wahrscheinlichkeit haben möchte, wenn sie noch urteils- und entscheidungsfähig wäre. Patientenverfügungen können eine Hilfe sein, diesen mutmasslichen Willen zu eruieren.

Auch wenn jemand aufgrund von altersbedingter Betreuungsbedürftigkeit in ein Alters- oder Pflegeheim zieht, ist das nicht das Ende seiner oder ihrer Selbstbestimmung. Moderne Altersinstitutionen setzen alles daran, ihren Bewohnerinnen und Bewohnern ein möglichst hohes Mass an Selbstbestimmung zu ermöglichen. Dafür braucht es Bewohnerinnen und Bewohner, die möglichst deutlich sagen, was sie wollen und was nicht. Denn bloss weil man auf die Unterstützung anderer angewiesen ist, heisst das noch lange nicht, dass man nicht mehr den legitimen Anspruch hat, selber zu sagen, wie man mit der notwendig gewordenen Hilfe sein Leben gestalten möchte.

  • Die Kehrseite von Selbstbestimmung ist die Selbstverantwortung. Autonomie im Alter beinhaltet auch die Verpflichtung, sich auf irgendeine Weise in der Gesellschaft, im sozialen Umfeld oder in der Familie zu engagieren und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten einen Beitrag zum Wohl des grösseren Ganzen zu leisten. Bei immer mehr älteren und immer weniger jungen Menschen ist unsere Gesellschaft darauf angewiesen, dass alte Menschen ihr Potenzial und ihre Ressourcen einbringen und so die jüngeren Generationen entlasten und unterstützen.


Zur Autonomie im Alter gehört auch die Selbstverantwortung im Blick auf die eigene Gesundheit und die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, wo sie nötig wird. Und wenn das Schicksal in Form von chronischen Krankheiten oder Behinderungen den Möglichkeiten eigenen Handelns zugunsten anderer enge Grenzen setzt, besteht Selbstverantwortung immer noch in der Art und Weise, wie sich alte Menschen darum bemühen, sich konstruktiv auf die eingetretene Lebenssituation einzustellen.
Ein letzter Aspekt von Selbstverantwortung wird immer wichtiger: die Bereitschaft, sich voraus-schauend mit dem eigenen Sterben und den dabei nötigen Entscheidungen auseinander zu setzen. Sterben unter den Bedingungen eines modernen Gesundheitswesens fordert immer mehr Entscheidungen. Sterben wird zunehmend von einem Schicksal zu einem «Machsal» (O. Marquard). Medizinisch verbindlich ist der aktuelle oder mutmassliche Wille des Sterbenden. Alte Menschen erleichtern es den Gesundheitsfachpersonen wie auch ihren privaten Bezugspersonen, wenn sie sich rechtzeitig dazu äussern, was ihnen im Blick auf ein «selbstbestimmtes Sterben» wichtig ist. So kann sichergestellt werden, dass auch am Ende des Lebens – in Situationen meist grosser Abhängigkeit von anderen Menschen – ihre Autonomie respektiert wird.

Autor: Dr. theol. Heinz Rüegger MAE,  wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Fachbereich Gerontologie und Ethik im Institut Neumünster, Zollikerberg